Samstag, 18. September 2010

Fremde Welten


Jom Kippur, Gemälde von Maurycy Gottlieb (Foto: Jim Trodel)
Wie gerne hätte ich die Kamera zur Hand gehabt, aber schon an "normalen" Tagen ist Fotografieren im ultraorthodoxen Mea Shearim nicht unproblematisch. An Jom Kippur und Schabbat ist nicht mal dran zu denken. Die kleine Gruppe, der ich mich anschliesse bei dem Versuch, den höchsten jüdischen Feiertag in einer ultraorthodoxen Synagoge zu feiern - ein paar Studentinnen und ein Student vom Studienjahr, ein befreundeter Priester - ist kaum wiederzuerkennen. Die Frauen stecken in bodenlangen Röcken, Arme bis zum Handgelenk bedeckt, einige haben sogar ihre Haare bedeckt. Die beiden Männer setzen, kaum dass wir aus dem arabische Viertel heraus sind, eine Kippa auf. Neugierig, aber auch verunsichert betreten wir Mea Shearim, im Kopf die Geschichten von steineschmeissenden Ultraorthodoxen.
Aber in der "Abraham und Isaak"-Synagoge werden wir freundlich empfangen. Wir Frauen schlüpfen durch den Hintereingang auf die Empore, einem nüchternen Raum mit an Schulbänke erinnernde Sitzgelegenheiten. Die Sitzbänke, das zeigen die kleinen Zettel an der Rückenlehne, sind alle vermietet. Eine aus Metallbändern enggewebte Barriere lässt nur kleine Spalte, von denen frau auf das für die Männer reservierte Erdgeschoss schielen kann.
Reges Treiben
Eine Stunde vor Beginn des Gottesdienstes füllt sich die Synagoge. Der Lärmpegel ist hoch, unten wie oben herrscht reges Treiben. Trotz grösster Mühe, die wir uns mit unsrer Kleidung gegeben haben, sind wir klar erkennbar "nicht von hier" und ziehen Aufmerksamkeit auf uns. Eine Studentin wird von einer älteren Frau beschimpft, sie solle nach Hause gehen und sich ordentlich anziehen. Ein Tuch um die Schultern regelt das Problem, und eine junge Frau erklärt uns auf Englisch, so seien wir herzlich willkommen. Englisch sprechen hier nur die wenigstens, besser kommt frau mit Deutsch ins Gespräch - die Antworten kommen dann auf Jiddisch. Wir werden gefragt, woher wir sind, eine Frau besorgt uns zwei Gebetbücher und ein paar andere schieben extra für uns eine weitere Sitzbank in den Raum.

Eine Hinweistafel am Eingang des Viertels bittet um angemessene Kleidung
Plötzlich hängen die Frauen in Trauben an der Sichtbarriere und versuchen, durch die schmalen Schlitze einen Blick auf das Geschehen unten zu erhaschen. Mit heiserer Klage beginnt der Rabbi unten den Gottesdienst. Oben hört man davon wenig - die Klimaanlage ist lauter. Während die Thora im Raum der Männer herumgetragen wird, herrscht unten fast ekstatische Stimmung, laute Gebete dringen nach oben. Bei den Frauen, ist es sehr viel ruhiger. Umkehr, Reue und Versöhnung werden an Jom Kippur gefeiert. Bei manchen Frauen ist das Gebet so emotional und innig, das sie vom Weinen geschüttelt werden und sie ihr Gesicht fest in das Buch pressen.
Es spielt!
Nach drei Stunden verlassen wir den Gottesdienst, der noch mindestens zwei Stunden weitergeht, nur um am frühen Morgen weitergeführt zu werden. Der Anblick draussen ist völlig unerwartet: Der Vorraum ist überfüllt mit Müttern, die ihre Babys stillen und wickeln. Draussen sieht es aus, als habe ein Kinderwagenhersteller seine gesamten Modelle ausgestellt. An die fünfzig Kinderwagen und mindestens dreimal soviele Kinder warten vor der Synagoge auf ihre Mütter. Die Grossen schauen auf die Kleineren, die sich um die Kleinsten kümmern. Und alle vertreiben sich die Zeit mit Spielen. Die Mädchen springen mit einer bewundernswerten Ausdauer und Kreativität Seil, spielen Fangen oder Schere-Stein-Papier. Die Jungs klettern derweil über die parkenden Autos und nutzen dann und wann ein Autodach als Trampolin. Es spielt!

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