Mittwoch, 23. Mai 2012

Eine Frage der Verhältnismässigkeit

"Vier Uhr an der Kreuzung, ok!" Ich bin etwas spät dran, und als dann noch das israelische Militär den Bus auf freier Strecke wegen einer Personenkontrolle anhält, rufe ich vorsichtshalber bei meinem Gesprächspartner an, doch der ist sowieso noch auf der Arbeit: "Kein Problem, ich brauche noch 20 Minuten, dann bin ich da!" Nach vierzig Minuten am vereinbarten Treffpunkt rufe ich vorsichtshalber ein zweites Mal an, nicht dass wir uns verpasst haben … "Noch zwei Minuten!" Weitere 15 Minuten später ruft er mich an, er sei jetzt zu Hause, wo ich denn stecke. Am Treffpunkt … Es folgt eine wortreiche Erklärung, wo genau ich denn stehe, gefolgt von "dann komm doch eben rüber ins Dorf zu meinem Haus, einfach die Strasse runter und dann nach Omar fragen!" Nach gut zwei Kilometern Strasse und zweimal erfolglosem "Fragen nach Omar" rufe ich ein weiteres Mal an. "Ok, bleib wo Du bist, ich hole Dich ab", lautet dieses Mal die Devise, und auch wenn "Warten" durchaus eines der Synonyme für "Orient" ist, schwindet meine Geduld so langsam aber sicher. Aber ich will ja was von ihm, also verkneife ich mir jeden Kommentar. 
Ein weiterer Anruf folgt, und mit Hilfe eines Dorfnachbarn schaffen wir es schliesslich, den Stand- (und Abhol)ort zu lokalisieren und keine zwei Minuten später hält ein abenteuerlich aussehendes Gefährt (der Name Auto wäre eindeutig ein Euphemismus) neben mir, drei Jungs auf der Rückbank und ein freudig winkender Omar am Steuer. Nach einer ziemlich ruckeligen Tour – der fahrbare Untersatz bewegt sich in alle nur erdenklichen Richtungen – sind wir da: Eine im Vergleich zu Omars kleinem Haus überdimensionale Tunnelbaustelle dominiert den Platz, der eigentlich von einer wunderschönen Sicht über Olivenhaine geprägt sein sollte. 
Das Haus, erzählt mir der Familienvater, liegt auf der "falschen" Seite des von Israel geplanten Sperrzaunverlaufs. Der Bau der Sicherheitsanlage, der die Dorfbewohner von einem grossen Teil ihres Landes abschneiden wird, ist soweit vorbereitet. Weil Omar und seine Familie sich weigern, ihr Haus zu verlassen, bekommen sie einen "eigenen" Zufahrtstunnel zum Dorf. Gleichzeitig wird das Haus im Abstand von zehn Metern rund herum eingezäunt. Der Schulweg der Kids verlängert sich durch die Anlage von zwei auf circa 30-40 Minuten, Besuch nach 18 Uhr ist nicht erlaubt und die etlichen Dunums Land, die dann auf der "anderen" Seite des Zaunes liegen, darf die Familie zweimal im Jahr bestellen. Schon jetzt macht Omar sich jeden morgen gegen halb sechs auf den Weg, um um sieben bei der Arbeit im knapp 10 Kilometer entfernten Jerusalem zu erscheinen. Wie es dann in Zukunft sein wird …? Er zuckt mit den Schultern und ich schäme mich für meine Verärgerung ob der langen Wartezeit. Was sind schon zwei Kilometer Fussmarsch und anderthalb Stunden Warten auf ein Interview angesichts der Schwierigkeiten, die für eine ganze Familie Alltag sind…

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