Sonntag, 21. September 2014

Der Westen, das gelobte Land

"Alles, nur nicht zurück in den Irak. Überall hin, nur nicht in Nahost bleiben." Standardsätze irakische Christen in diesen Tagen. Sie sind aus ihrer Heimat geflohen vor dem Terror und der Verfolgung. Zurück wollen sie um keinen Preis. Sie haben Zuflucht gesucht in Jordanien, im Libanon, in der Türkei. Dort bleiben wollen sie um keinen Preis. In den Westen wollen sie, nach Kanada, Deutschland, Frankreich oder in die USA. Weil "bei Euch in Deutschland Freiheit herrscht", weil es "bei Euch in Deutschland Gerechtigkeit gibt und alle gleich sind vor dem Gesetz", weil es Häuser gibt, Arbeit und finanzielle Unterstützung für die Kinder. Hier, sagen sie, gibt es keine Zukunft, nicht für sie, und, noch viel schlimmer, nicht für ihre Kinder.
Die Erinnerung an die Schrecken in der Heimat immer dabei
Hier in Nahost sprecht ihr wenigstens die Sprache, kennt die Kultur. Gleich vor dem Gesetz sind dort vor allem Staatsbürger. Die Häuser dort sind nicht selten Notunterkünfte oder Container. Dort eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, ist nicht so einfach. Und vor allem: Das Misstrauen gegenüber Arabern dort ist enorm, einen Unterschied zwischen Christen und Muslimen machen dort die wenigsten. 
Papiere vom Gastland in den Händen, den Traum vom Westen im Kopf
Doch alle Einwände sind wertlos gegenüber dem Bild vom "Paradies des Westens", das sich in den Köpfen der meisten so fest gesetzt hat wie die gängige westliche Ansicht, alle Araber seien Terroristen oder zumindest verdächtig. Ich denke an die verglichen zur Bevölkerung verschwindend geringe Zahl von Flüchtlingen, die im Westen Aufnahme gefunden haben. Und daran, wie gut dem Westen täte, ein kleines Stück dieses Idealbilds in den Köpfen der Flüchtlinge Wirklichkeit werden zu lassen…

Montag, 8. September 2014

Hierarchie der Barbarei

"James Foley. Steven Sotloff. Ali Sayyed. Und all die anderen. Die anonymen: Sunniten, Schiiten, Christen. Schweigende Lämmer geopfert von monströsen Bastarden, von Aliens, die in einer verblüffenden Überzeitlichkeit zappeln, bald im 11. Jahrhundert, den Säbel in der Hand, à la Assassinenchefs Hassan-i Sabbah, bald im 21. Jahrhundert, die Photosonics-Kamera ums Handgelenk, à la Michael Moore, dem König der Schock-Dokus. Diese Gefolterten werden noch sehr lange durch die halluzinierten Alpträume geistern. Nicht nur ihrer Familien, denen gleichzeitig die Hälfte ihrer Seele amputiert wurde. Auch durch jene eines ganzen Planeten, aller Rassen und Religionen, verwirrt, erstarrt, bestürzt, buchstäblich versteinert von der Neobarbarei, die letztlich die archaischste, die originellste und die einfachste, weil die sprechendste ist: Die Enthauptung. Es geht nicht um eine Hierarchie der Barbarei, nicht um eine Analyse der Methode, des Hintergrunds, des Warum. Sondern um das Wie, die Form, das Bild, das kollektive Gewissen der Menschheit: Wir sind weit entfernt von der schmutzigen und teuflischen Raffinesse der Nazis, weit entfernt von der viehischen Grobheit der zionistischen Regierungen, der Bombengürtel der rachsüchtigen palästinensischen oder arabischen Kamikaze, den von diversen afrikanischen Tyrannen angeordneten Genoziden, von den Rekorden eines Mao, Stalin, Ceausescu, Assad, Pol Pot et cetera. Wir sind beim Säbel. Beim Schwert. Beim Primitiven."
Journalist Ziyad Makhoul im Meinungsbeitrag "Boys don't cry" für die französischsprachige libanesische Tageszeitung "L'Orient Le Jour" (6. September); übersetzt aus dem Französischen.