Freitag, 31. Oktober 2014

unschöne Gedanken

Ich gestehe. Ich habe eine Grundabneigung gegen alles Militärische. Und auch wenn mich der beinahe alltägliche Anblick blutjunger Soldatinnen und Soldaten mit Waffe in Bussen, Strassenbahnen und überhaupt im Stadtbild nach all der Zeit weniger schockt als anfangs, werde ich mich so recht nie dran gewöhnen. Noch weniger geht für mich die Heiligkeit einer Stätte mit der zur Schau gestellten militärischen Macht zusammen. Wie gestern Abend, an der heiligsten Stätte einer Religion, am sensibelsten Brennpunkt einer Stadt kurz vor der Explosion. Das heilige Buch in der einen Hand. Die Waffe in der anderen. Dann kann ich mich eines unschönen Gedanken nicht erwehren. Dschihad.




Pulverfass


Die Rede ist vom Pulverfass, von überschrittenen roten Linien, vom Siedepunkt oder von der dritten Intifada: Nicht erst seit den Schüssen auf den rechten jüdischen Tempelberg-Aktivisten Yehuda Glick Mittwochnacht ist die Spannung in Jerusalem förmlich greifbar. Bei meiner täglichen Jogging-Runde warnt mich ein palästinensischer Anwohner von Abu Tor, ich solle lieber eine andere Route wählen ("Siehst Du die Jungs gegenüber in Silwan, die Steine schmeissen? Die können auf die Entfernung nicht sehen, dass Du keine Jüdin bist!"). Als mir die Kette des Rads ausgerechnet vor dem amerikanischen Konsulat abspringt, eilt das Sicherheitspersonal ziemlich schnell nervös zur Hilfe, und auch die unweit des Präsidentenhauses eingelegte Zigarettenpause in der Abenddämmerung ruft innert Sekunden den Wachhabenden auf den Plan.
Seit dem Angriff auf Glick und der anschliessenden Erschiessung des mutmasslichen Täters hat sich die Lage noch verschärft. Zusätzlich zum ohnehin schon mehrfach erhöhten Kontingent an Einsatzkräften sind noch mal mehrere Hundertschaften Polizei und Grenzschutz in die engen Gassen der Altstadt und die benachbarten arabischen Wohnviertel geschickt worden. Viele Geschäfte blieben geschlossen, ähnlich leer wie seither sieht man die Altstadt selten. Für den Moment aber scheint der Plan aufzugehen. Der vielleicht kritischste Moment, die Freitagsgebete, sind ohne die ganz grosse Explosion zu Ende gegangen. Vielleicht hat auch der strömende Regen das Seine dazu getan und die erhitzten Gemüter ein wenig gekühlt.

Regierung, Armee, Stadtverwaltung

Das Jerusalem-Syndrom ist diese Woche erneut ausgebrochen. Ein religiöser muslimischer Fanatiker hat offenbar versucht, einen religiösen jüdischen Fanatiker zu ermorden. Beide waren religiös, angeheizt durch vergleichbaren Fanatismus und gespalten durch einen umstrittenen Berg. Viele sind vertraut mit dem Jerusalem-Syndrom, jener psychischen Störung, die Jerusalemer wie Besucher der Stadt trifft. Ihre Opfer sind plötzlich besessen von einer tiefen spirituellen Überzeugung, göttliche oder messianische Kräfte zu haben. Das Resultat ist üblicherweise ein ernsthafter Schaden für sie selbst und jeden, der mit ihnen in Kontakt kommt. In den letzten Jahren habe ich gelegentlich das Gefühl, dass das Jerusalem-Syndrom eine israelische Mainstream-Partei geworden ist, deren Leute die empfindlichsten Positionen im Land besetzen – in der Regierung, in der Armee und der Jerusalemer Stadtverwaltung."
Der israelische Politiker und frühere Parlamentssprecher Avraham Burg in seinem Meinungsbeitrag "Das Jerusalem-Paradox im Herzen Israels" für die israelische Tageszeitung "Haaretz" (31. Oktober). Aktueller Anlass ist der Angriff eines Palästinensers auf einen radikalen jüdischen Tempelberg-Aktivisten in der Nacht zu Donnerstag, der zu einer weiteren Anspannung der Sicherheitslage in Jerusalem geführt hat.

Donnerstag, 23. Oktober 2014

Die geteilteste Stadt

"The uprising is on the way. When the next wave of terror emerges from the alleys of East Jerusalem, Israelis will pretend to be astonished and furious. But the truth must be told: Despite Wednesday's shocking incident, the Palestinians are turning out to be one of the most tolerant nations in history. Mass arrests, violent settlers, deprivation, expulsion, neglect, dispossession — and they remain silent, except for the recent protest of the stones. There is no self-deception from which the city doesn’t suffer. The capital is a capital only in its own eyes; the united city is one of the most divided in the universe."
Gideon Levy für Haaretz mit einer pessimistischen Perspektive für Jerusalem. Der Terror werde ausbrechen, eine weitere Mauer werde gebaut, diesmal durch die Stadt selbst. "Mit einem nationalistischen Bürgermeister, einer gewalttätigen Polizei und einer Regierung unter Benjamin Netanjahu", so Levy, "ist nichts mehr sicher".

Most creative

"Of course, it wouldn’t hurt to recognize the Aramean nation, and as a fan of esotericism, I’d say it’s the most creative step the current Israeli government has taken. The more nations the better. Anyone who feels himself Aramean should be Aramean."
Roy Arad kommentiert für Haaretz die ungewöhnlichen Allianzen, die sich seit einer Weile zwischen einem Teil der arabischsprachigen Christen Galiläas und der israelische Politik ergeben. Der jüngste Coup: Seit neuestem dürfen sie in ihren Ausweispapieren "Aramäer" statt "Araber" eintragen lassen. Israels Innenminister Gideon Sa'ar als "der Herzl der Aramäer"?

Montag, 20. Oktober 2014

Filmtipp



"Wir wollen nichts zu Essen, nichts zu trinken, keine Decken, keine Winterkleidung. Sie sollen nur nicht mehr auf uns schiessen." "Ich möchte meine Träume verwirklichen, aber sie geben uns nicht, um sie zu verwirklichen.""Ich hoffe und bete zu Gott, dass ich wieder zurück kann, nur für einen Tag, dann kann er mich holen."Wie oft habe ich solche Sätze in den letzten drei Jahren aus dem Mund von Flüchtlingen im Libanon, in Jordanien gehört. Jedesmal aufs Neue schnüren sie mir die Kehle zu. Zehn Tage hat der französische Regisseur Pierre Schoeller in einem Flüchtlingslager im irakischen Kurdistan gefilmt. Die Bilder und Geschichten der daraus entstandenen Dokumentation "Verlorene Zeit" sprechen für sich alleine. Ein berührender Film, der gleichzeitig viele Fragen hinterlässt. Zum Beispiel, ob es wirklich ok ist, Zuschauer als Reporter auf Flüchtlinge anzusetzen. Wo enden öffentliches Interesse und Hilfe für die Betroffenen, wo beginnt der Voyeurismus?