Donnerstag, 24. Dezember 2015

Das verflixte siebte Jahr

Es ist das siebte Weihnachtsfest, dass ich dort verbringen darf, wo so viele gerne mal Weihnachten feiern würden: da, wo alles angefangen hat, in Bethlehem. Es ist wie seit 2009 der längste Arbeitstag im Jahr, und doch ist es dieses Mal irgendwie anders. Ein richtiger Weihnachtsfreak war ich nie, doch wo sich in den Vorjahren spätestens mit dem Eintreffen des Patriarchen am Checkpoint nach Bethlehem - trotz der unschönen Kulisse - ein festliches Gefühl einstellte, blieb sie dieses Jahr aus, die Weihnachtsstimmung. Menschenleer ist die Strasse, die vom ersten Checkpoint-Tor zum Korridor von Rachelsgrab führt. Nur spärlich sind die Strassen in Richtung Geburtskirche gesäumt. Erst in den engen Gassen der Altstadt, durch die wie üblich die Pfadfindergruppen den Autokonvoi anführen, wird es ein bisschen knubbeliger. Auffallend ist aber vor allem die grosse Anzahl von Polizei und Sicherheitskräften. Am Nachmittag auf dem Krippenplatz stellen sie fast die Mehrheit. Auch hier ist die Atmosphäre spürbar gedämpft. Und die Scharfschützen auf den Dächern rundherum helfen nicht gerade, die Stimmung aufzuhellen... Fröhliche Weihnachten gehen irgendwie anders.


Sonntag, 20. Dezember 2015

Die einzige Halbdemokratie des Nahen Ostens

*Von Avraham Burg 

Nehmen wir einmal an, alles, wovon die Verfolger der Rechten träumen, würde wahr: Es gäbe keinen „New Israel Fund“, niemand bräche irgendeine Stille, Gideon Levy verstummte und Amira Hass verschwände. „Haaretz“ ginge den Weg von „Davar“, „Hadashot“ und „Al Hamishmar“ – R.I.P. Meretz stürbe. Ayman Odeh würde aktiv zum Schweigen gebracht. Herzog und seine Labor-Partei setzten ihr geschwätziges Schweigen fort und Rubi Rivlin hätte keine Meinung zu was auch immer. Wahrhaft messianische Tage! Vom Morgengrauen bis spät in die Nacht würden wir auf das bunte ideologische Spektrum hören: von Erel Segal, Irit Linor, Hagai Segal, Sheldon Adelson, Baruch Marzel, Arie und Karni Eldad, Yoaz Hendel und Israel Harel. Niemand würde sie daran stören, Israel zu einem wahrhaft Ausgestossenen zu machen und sich irgendwie verfolgt und arm zu fühlen. Denn diese seltsame Welt – demokratisch und rechtsstaatlich – würde uns aus seiner Mitte auskotzen.

Liebe Leser, dies ist kein Alptraum eines verfolgten Linken. Dies ist die aktive Vision vieler, vielleicht gar der Mehrheit der Vertreter und Abgesandten der Rechten. Und ich sage: Nur zu! Es ist wichtig, dass dies geschieht. Haltet sie nicht auf, im Gegenteil. Nehmt unseren Segen und legt los, mit allem, was ihr habt. Ihr herrscht, ihr seid die Macht, macht es, so sehr ihr es wollt. Vielleicht werden wir uns eines Tages an der Wahlurne treffen (sofern es noch welche gibt). 

Seit vielen Jahren kann die Rechte tun, was immer sie will, in den besetzten Gebieten delirieren, annektieren und diskriminieren, weil die dumme Linke alle ihre Untaten für koscher erklärte. Als sie auf den Hügeln bauten, das Land beraubten und die ursprünglichen Bewohner der besetzten Gebiete vertrieben, liefen wir durch die ganze Welt und beruhigten alle Israel-Unterstützer und uns selbst: Es ist nur temporär, versprachen wir. Nur ein Moment und etwas wird passieren. Clinton wird kommen, Kerry wird zurückkehren, Obama wird eine Rede halten, Netanjahu ist in Bar Ilan. Während also die Rhetorik von der Zwei-Staaten-Lösung in der Welt der Worte gewonnen hat, beherrscht die Besatzungsrechte die Welt der Taten. Und sie ist immer noch sehr hungrig, sie will mehr, sie will sich alles einverleiben. Der Skorpion will den Frosch töten, der ihn wieder und wieder zur anderen Seite des Teiches getragen hat. Es ist an der Zeit, dass alle Prinzen der Linken und ihre Frösche aufhören, sich in den Dienst des Selbstzerstörungsmechanismus der Rechten zu stellen, die in diesen Tagen in Israel mit voller Kraft aktiviert ist. Wir müssen klar und deutlich bekennen: Die rechte Realität ist nicht befristet, die Besatzung ist für immer, und Israel ist ein Staat mit zwei Regimes, gut und wohlwollend für die Juden, schlecht, heimtükisch und diskriminierend für die Palästinenser. Von nun an ist es kein Kampf um die Illusion eines möglichen Friedens an der nächsten Ecke, um eine imaginäre Situation, in der aus dem Nichts heraus die rettende Trennungsvereinbarung geboren wird. Es ist ein Kampf um Leben und Tod zwischen dem Regime eines schlechten Staates und einem Staat, der gut ist für beide Völker.

Die israelische Linke (von der nicht ganz klar ist, ob es sie überhaupt gibt) muss sagen: Wir haben es satt, das kleine Feigenblatt für Eure grossen Eier zu sein. Wir werden sehen, wie Ihr ohne unseren Schutz in die Welt hinausgeht. Wir werden sehen, wie ihr Israel als die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ beschönigt – die Demokratie einer Stimme, einer ethnischen Rasse, einer Religion, eines Ministerpräsidenten, einer öffentlichen Meinung. Es gibt solche Modelle in der Welt, Nord-Korea zum Beispiel. Die Haltung der Welt ist entsprechend. Ihr alleine seid verantwortlich und Ihr werdet verantwortlich sein für die Resultate. Und wir müssen dieser schlaffen Linken sagen: Fangt gar nicht erst an mit all diesen dummen, hohlen Argumenten von Verantwortung, und „wir können den Staat nicht aufgeben und vernachlässigen“ und allen diesen Argumenten, die schlussendlich dazu führen, dass Ihr am Regierungstisch sitzt. In einer harten Politik wie der unseren brauchen wir zwei Tugenden, die Ihr beide nicht besitzt. Die erste lautet: Eine vollständige, umfassende Alternative zu bieten und mit aller Kraft, Verbissenheit und Leidenschaft für sie zu kämpfen. Zweitens: Prozesse und Dynamiken reifen und zu einem Ende kommen zu lassen. Niemand hat Euch zu den Erlösern und Rettern der Rechten ernannt! Überlasst dem Bibismus seinen Lauf und er wird von alleine fallen. Er wird in Eure Hände fallen, wenn Ihr mit einer angemessenen Alternative parat steht. 

Jeder muss das Offensichtliche verstehen. In Israel herrscht ein sehr mächtiger kalter Bürgerkrieg zwischen „Im Tirzu“ und „Breaking the Silence“. Erstere sind an der Macht, und trotz ihres Gejammers sind sie die korrupte, barbarische Besatzungsmacht. Demgegenüber muss „Breaking the Silence“ eine starke politische Bewegung werden, die sich nicht nur mit dem schrecklichen Mikrokosmos der Shuhadda-Strasse in Hebron befasst, sondern die das Schweigen über die israelische Täuschung vollständig bricht. Die israelische Demokratie stirbt, und ihre gegenwärtige Lage ist nur eine halbe Demokratie – die einzige Halbdemokratie im Nahen Osten. Dies ist nicht genug. Ob wir schweigen oder nicht, ob wir es wollen oder nicht, diese Tage sind bereits da und die Zeit für den Kampf gekommen – für eine sakulare Demokratie für alle ihre Bürger, in welcher Religion völlig vom Staat getrennt ist, in welcher die öffentlichen Ressourcen fair und transparent zwischen allen aufgeteilt werden, in welcher verfassungsmässig garantierte volle Gleichheit zwischen Männern und Frauen, Mehrheit und Minderheit, Religiösen und Säkularen herrscht und die Frieden sucht, grosszügig und nicht besetzend und nicht annektierend.

Samstag, 19. Dezember 2015

Smalltalk on the Beach

"Welcome to Gaza. So how do you like Gaza? Hilwe, beautiful, right? Are you married? Kids? So you are from Germany. Which football team are you for? And do you also like the jews? Yes, there are some nice people over there. Like in every place there are nice people and less nice. And after all we are neighbors."

Mittwoch, 16. Dezember 2015

Tabu

"But Breaking the Silence violated the greatest taboo of all: It broke the “code of loyalty” to the lie and thereby created a historic precedent that hasn’t sat well in the belly of the nation, which was educated to blind faith in the sanctity of the army and the purity of its arms. For in a place where the priests of security can do no wrong and the holy vessels in uniform wear the sign of supreme morality around their necks, then even when they kill innocents, not even a shadow of a doubt about their purity can exist. Yet even so, Breaking the Silence, which sought to serve as a cleansing agent for the dark corners that the army carefully hid, has suffered far more than it bargained for."
Haaretz-Korrespondent Zvi Bar'el zu den Bestrebungen von Bildungs- und Verteidigungsminister, den Einfluss der Gruppe "Breaking the Silence" einzuschränken (Haaretz, 16. Dezember)

Sonntag, 13. Dezember 2015

Von Juden und Messern, Glauben und Fanatismus


Mein geliebter Enkel,
Frohe Hanukkah. 

* Von Avraham Burg

Ich möchte Dir eine Geschichte erzählen, über Hanukkah und warum wir es feiern. Es ist eine Geschichte über Juden, Messer, religiösen Glauben und guten Fanatismus. 
Vor vielen Jahren waren Besatzer hier in diesem Land. Wir hatten viele Besatzer, aber an diese erinnern wir uns besonders. Sie hatten nicht einen einzigen Gott wie wir, und keine Rabbiner, die ihnen sagten, was erlaubt und was eine Todsünde ist. Sie waren irgendwie frei. Anfangs haben sie uns nicht davon abgehalten, den Glauben unserer Väter fortzuführen, und wir haben uns nicht an ihren merkwürdigen religiösen Riten gestört. Sie assen und opferten sogar weisses Fleisch. Schwein, weisst Du. Zu einem Opfer kann man nicht "igitt" sagen, mein Liebling, aber es war beinahe "igitt". Obschon sie an Philosophie glaubten, an die Liebe der Weisheit. Sie verehrten viele Götter, sie waren wahrhaft pluralistisch, bewahre Gott. Sie wussten viel über Lehren aus der ganzen Welt und sie verfügten über eine heimtükische Toleranz. Sie nannten es Hellenismus. Stell Dir vor: Ein Volk, das nichts gegenüber fanatisch ist. Ein Volk, das nicht willens ist für die Heiligung Gottes getötet zu werden. Eigenartig, nicht wahr?

Später hatten sie Schwierigkeiten. Ihre Könige, echte Brüder, vergossen einer das Blut des anderen – wie immer bei den Heiden. Am Ende brachten all diese Kriege sie in den Ruin. Also begannen sie, allerlei Heiligtümer auszurauben, so auch unseren geliebten Tempel. Es ist ok, wir litten still, denn es war nur Geld. Eines Tages beschloss einer von ihnen, dass er unsere Unabhängigkeit auf dem Tempelberg nicht mag, in unserem eigenen, privaten Tempel, und er entschied, den Status Quo zu verändern. Weisst Du, das ist Zustand, in dem jeder das tut, was er regelmässig tut. Sie wollten die Herrscher unsres Tempels sein, mit ihren Göttern und ihren Symbolen und ihren Opfern. Ich verstehe nicht, warum sie nicht sensibler waren. Ich meine, im Gegensatz zu ihnen hatten wir keinen Staat. Wir hatten keine Armee und kein eigenes Regime. Nur im Haus Gottes, unserem spirituellen Zentrum, fühlten wir uns zuhause. Es war das Ziel unser Pilgerreise an den Feiertagen. Hier beteten wir, erbrachten unsere Opfer und waren vereint. Plötzlich kamen sie und wollten uns das wenige nehmen, was wir hatten, wegen ihrer politischen Probleme, nicht unserer. Wir waren sehr wütend.

Ich muss Dir erklären, wer "wir" sind. Wir waren damals eine völlig gespaltene Gesellschaft. Arme und Reiche waren abgesondert, das Zentrum und die Dörfer waren getrennt. Nur der Glaube brachte uns zusammen und machte uns einzigartig. Der Tempel war das Zentrum all dieser Krümel. Und dann waren da diese schrecklichen Griechen, die Besatzer. Sie erklärten uns einen Religionskrieg. Sie waren entschlossen, uns zu hellenisieren und so viele ihrer Symbole wie nur möglich in unseren Tempel zu bringen. Sie verunstalteten unsere Sprache und errichteten Strassensperren auf Strassen, die allein unsere waren. Sie kamen in unsere Dörfer, unsere Familien und unsere Seelen. Ich glaube, sie waren überzeugt davon, dass es so etwas wie das Jüdische Volk nicht gibt. Und als wenn das nicht gereicht hätte, kultivierten sie all diese Hellenisten aus unserem Volk. Diese Hellenisten sprachen Griechisch, sie trieben Sport, liebten das Theater, gingen ins Ausland und trugen schöne Kleider, so wie die Griechen. Die Griechen versuchten, unser Leben durch diese VIP’s zu kontrollieren. All jene neuen, arroganten Aristokraten hatten ein gutes Netzwerk und man kümmerte sich gut um sie. Sie reisten von Ort zu Ort, frei und ohne Hindernisse. Sie hatten Geld für die schönen Seiten des Lebens. Nur wir, die Armen und Unsichtbaren, das traditionelle Volk, zahlte den Preis.

Schliesslich haben wir es nicht mehr ertragen. Genug! Wir hatten es satt! Arm zu sein und all die Steuern zu zahlen und den Preis und den Tempelberg zu verlieren. Es war einfach zu viel. Also haben wir uns aufgelehnt. Ein Mann, Matityahu HaCohen, der Hasmonäer, wurde zum Nationalhelden. Ohne Zögern erstach er den führenden griechischen Offizier in Modi'in, und mit ihm ein paar Arschkriecher um ihn herum. Nach diesem gezieltem Töten des Besatzers und seiner verachtenswerten Kollaborateure geriet das Messerzücken für viele Jahre ausser Kontrolle im Land.

Die Nachkommen von Matityahu errichteten uns ein Königtum. Es war eine Art Jüdische Autorität, die für viele Jahre hier herrschte. Weisst Du, was das komische daran ist? Weisst Du, woran es scheiterte und fiel? An der Messerklinge, an den jüdischen Messermännern – den fanatischen politischen Mördern, die das Erbe Matityahus und seiner Söhne lebendig erhielten. Die Griechen waren fort damals. Es gab andere Besatzer – die Römer. „Sika“ in ihrer Sprache ist ein langes, geschwungenes Messer, wie die „Shabria“ der Araber, und mit ihm erstachen sie jeden, der ihnen nicht passte. Sie waren religiöse Fanatiker wie der gute alte HaCohen von Modi’in und stachen und töteten, bis die Stadt zerstört war. 
Aber das ist eine andere Geschichte für ein anderes Fest. Was ich Dir erzählen wollte: Messerstechereien sind Teil unsere Erbes und unsrer wertvollen Erinnerungen. 

Frohe Hanukkah.

(Aus dem Hebräischen übersetzt von Helya Bar-Mag und Andrea Krogmann. Mit freundlicher Genehmigung des Autors)

Mittwoch, 2. Dezember 2015

Altar der Inkompetenz

"For many years, people – including myself – employed an image used by therapists, according to which we live in a cycle of pathology whereby 'an abused child becomes a violent parent.' The most persecuted nation in the world has been transformed – almost naturally – into a persecutor. I think that the practical and moral validity of this argument has expired, among other reasons due to the pathological usage by the prime minister of our past victimhood in order to justify the sacrifice of two nations on the altar of his incompetence."
Avraham Burg für "Haaretz" (26. November) darüber, warum das gegenwärtige Machtverhalten Israels "sehr unjüdisch", aber "sehr israelisch" ist.